Das Bäumchen

Es war einmal ein Bäumchen. Eigentlich war es kein Bäumchen, sondern ein ziemlich großer Baum. Nur kriegte das niemand so richtig mit, denn um den Baum herum war noch ein Baum, und der war ganz aus Licht. Das Licht war so hell wie geschmolzenes Silber und leuchtete, daß es heller nicht ging. Weil das Licht strahlte und sich aufplusterte, sah der Blätterbaum in seiner Mitte klein aus, obwohl er es gar nicht war.

Das ärgerte den Blätterbaum schon eine ganze Weile. „Ich will nicht, daß du größer bist als ich!“ meckerte er mit dem Licht, das ihn umhüllte und schüttelte zornig seine Äste. „Ich will auch nicht, daß du dauernd an mir klebst. Ich kann alleine hier stehen und wachsen. Verzisch dich!“

Der Lichtbaum war sprachlos. „Ist das dein Ernst?“ fragte er nach einer Weile.

„Ja“, erwiderte der Blätterbaum und knarrte mit dem Stamm.

„Dann werde ich mal gehen“, seufzte der Lichtbaum traurig und machte sich immer dünner und blasser. Schließlich war er nur noch ein schwacher, weißer Schein, der irgendwo in der Luft verschwand. „Ruf mich, wenn du mich brauchst!“ war das Letzte, was der Blätterbaum aus weiter Ferne von ihm hörte.

„Da kannst du lange warten“, verkündete das Bäumchen von oben herab. „Jetzt bin ich frei, endlich frei! Keiner mehr um mich herum, der größer ist als ich. Ich bin der Größte, ich allein!“

Vor Begeisterung ließ es zahlreiche Blätter in die Luft fliegen und streckte seine Zweige aus, so lang es konnte. „Nun werden alle Tiere und die Kinder zu mir kommen und sehen, wie groß ich wirklich bin“, freute es sich.

Die Tiere und die Kinder kamen tatsächlich, sie waren ja immer gern zu dem Baum gegangen. Der Fuchs hatte sich an einem weichen Platz zwischen den Wurzeln ausgeruht, die Vögel hatten in seinen Zweigen gezwitschert, und die Kinder hatten in seinem Schatten gespielt.

Als sie diesmal den Baum besuchten, stutzten sie. Der Fuchs schnupperte unzufrieden an den Wurzeln, die Vögel klappten ihre Schnäbel wieder zu, und die Kinder starrten ihn an, als wäre er ein Fremder.

„Wie siehst du denn aus?“ fragten sie ihn.

Der Baum lachte. „Groß!“ rief er, „ich bin groß!“

„Groß bist du?“ wunderten sich die Tiere und die Kinder und gingen ein Stück zurück, um ihn genauer zu betrachten.

„Nein, das stimmt nicht“, stellten sie fest. „Du bist viel kleiner geworden. Und leuchten tust du auch nicht mehr. Im Grunde genommen siehst du aus wie ein Besen mit
Blättern.“

Hätten die Wurzeln den Baum nicht ganz fest in der Erde gehalten, wäre er umgefallen, so erschrocken war er. Er verstand nicht, was die Tiere und die Kinder meinten und warum sie von ihm fortgingen.

In den nächsten Tagen war es genau das gleiche. Die Vögel flogen an ihm vorbei und suchten sich andere Bäume, die Kinder tobten weit weg von ihm auf der Wiese, und er stand alleine da und langweilte sich.

Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, guckte er sich von oben bis unten an, beschaute seine Äste und Blätter und wiegte sich im Wind. Langsam merkte er selber, daß etwas nicht mit ihm stimmte.

Unlustig ruckelte er hin und her und klagte: „Ich fühle mich gar nicht wohl, überhaupt nicht. Niemand kommt mehr zu mir, ich bin einsam, und so groß wie früher bin ich auch nicht mehr! Wie kommt das nur?“

Er überlegte und überlegte, bis es ihm einfiel. „Mein Licht ist weg“, sagte er, „das ist der Grund. Als das Licht noch um mich herum war, war ich doppelt und dreifach so groß. Und ich Dussel habe es weggejagt. Was mache ich jetzt bloß?“

„Ruf es doch zurück“, riet ihm der Fuchs, der gerade an dem Baum vorbeiging.

Der Baum schämte sich. Er war ja ziemlich garstig zu seinem Lichtbaum gewesen. Nachdem er einen Tag und eine Nacht lang gezappelt und nachgedacht hatte, räusperte er sich. „Li...!“ rief er zaghaft, und noch einmal: „Li...!“

Nein, so ging das nicht. Er hustete ein bißchen, schüttelte sich, reckte seine Äste und schrie aus voller Kraft: „Lichtbaum!“

Nichts passierte. Er schrie ein zweites Mal und dann ein drittes Mal: „Lieber Lichtbaum, komm zurück!“

Liebe Kinder, ihr werdet es nicht glauben, was jetzt geschah. Von weit, weit her näherte sich am Himmel ein Licht. „Hast du mich gerufen?“ fragte es freundlich. Der Baum nickte mit allen seinen Blättern. „Bitte, sei wieder bei mir!“ bat er. „Ich habe gesehen, daß ich mit dir viel, viel größer und schöner bin als ohne dich. Bleib da, wir gehören doch zusammen!“

Das Licht hüllte sich um den Baum, der wunderbar anfing zu glänzen und zu leuchten. Silberhell strahlte es um ihn herum, und er war so schön wie nie zuvor. Die Vögel sahen ihn schon von weitem und kamen herbeigeflogen. Die Kinder rannten auf ihn zu und jubelten: „Der Lichtbaum! Unser Lichtbaum ist wieder da!“

Und der Fuchs? Der saß zwischen den Wurzeln und gähnte zufrieden.

März 2014

    © Karin Usbeck
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Karin Usbeck, Thüringen