Der Bussard

Es war einmal ein Bussard. Der Bussard war ein großer, schöner Vogel mit kräftigen Schwingen und einem scharfen Schnabel. Wenn er durch die Luft flog, schrie er hoch und hell. Das war sein Ruf, mit dem er die Welt begrüßte.

Eines Tages war es sehr kalt. Mal blies der Wind, mal schlief er. Mal waren die Wolken dunkel, mal waren sie hell. Der Bussard hüpfte auf der Wiese hin und her, hackte in der Erde und suchte was zum Fressen. Als er wieder einmal den Kopf hob und sich umschaute, sah er einen wunderschönen Regenbogen. Zart und bunt reckte er sich über die Berge hoch in den Himmel.

„Oh!“ dachte der Bussard voller Bewunderung. „Es muß herrlich sein, da oben zu sitzen und von dort auf die Erde hinabzusehen!“

Der Bussard verrenkte sich fast den Hals nach dem Regenbogen, bis er es nicht mehr aushielt. Er schwang seine Flügel und flog empor. „Bleib hier, bleib hier!“ riefen die anderen Vögel aufgeregt. „Auf Regenbögen fliegt man nicht!“

Doch der Bussard kümmerte sich nicht um sie. Sanft schwebte er an dem bunten Bogen entlang, bis er die höchste Spitze erreicht hatte. Dort ließ er sich nieder und staunte. War das noch die Welt unter ihm, die er kannte? Alles war so klein, so weit weg, eigentlich sah er nur noch Farben. Er sah grün - das mußten wohl die Wiesen sein. Er sah dunkle Flecken - das sind bestimmt die Wälder, dachte er. Und irgendwo weit hinten sah er weiß - das waren die Wolken. Und er selbst saß auf dem Regenbogen und war fast so bunt wie dieser.

Der Bussard war so begeistert von all den herrlichen Farben, daß er den lautesten Schrei ausstieß, den jemals ein Bussard von sich gegeben hat. Dabei fiel er hinterrücks von dem Regenbogen herunter. Die Farben vor seinen Augen wurden schwach und schwächer, und er fiel und fiel. Er fiel so rasend schnell nach hinten weg, daß er durch den Himmel hindurchfiel. Und dann war er da, wo kein Himmel mehr ist.

Überall um ihn herum war es schwarz, und in dem Schwarz funkelten viele kleine Sternenpünktchen. „Schaut mal, wer da ist!“ riefen die Sterne, als er vorbeisauste. „Das ist der Bussard! Oh, wie kann der fliegen!“ Der Bussard freute sich sehr über das Lob, aber er hatte gar keine Zeit, den Sternen Guten Tag zu sagen. Denn jetzt fiel er noch schneller.

Und dann war er da, wo selbst keine Sterne mehr sind. Da, wo er war, war nichts mehr. Der Bussard hatte das Gefühl, daß reineweg alles verschwunden war, der Tag, die Nacht, der Mond, die Sterne, eben alles. Nur er selbst war noch da, der Bussard, und das war gut so. Er schloß die Augen und wußte auf einmal alles von der Welt, was ein Bussard nur wissen kann.

So blieb er lange Zeit. Als er die Augen wieder öffnete, wo war er da wohl, liebe Kinder? Ja, genau! Er saß wieder ganz oben auf dem Regenbogen, der immer noch wunderbar in allen Farben leuchtete. Die Wolken zogen an ihm vorbei und winkten, der Regen machte seine Federn frisch, und die Sonne kitzelte ihn an der Kralle.

Triumphierend breitete der Bussard seine Flügel aus, flog hinab zur Erde und schrie:

„Und man kann doch auf einen Regenbogen fliegen!“

Aprill 2014

    © Karin Usbeck
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Karin Usbeck, Thüringen