Karin Usbeck, Thüringen

Pfade der Seele

Pfade der Erinnerung

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Geisterplausch

Eine rosa blühende Winterkirsche oder lieber die Zierkirsche „Pink Perfection“? Ich beschäftigte mich damit, einen Baum auszusuchen, der zu unserem Grundstück passen und gleichzeitig einen guten Sichtschutz bieten würde. Während ich noch ganz vertieft in einem dicken Baumschulkatalog blätterte, verschwamm das Katalogblatt plötzlich vor meinen Augen. Rosa Blüten und Zweige traten in den Hintergrund, ein neues Bild erschien. Wiesen und Wälder zogen vorbei, und mein innerer Blick glitt immer weiter hinaus in die Natur und immer weiter bergauf.

Ich hielt still und ließ es geschehen.  Allmählich kam mir die Landschaft bekannt vor, und ich versuchte zu orten, wo ich mich befand. Links war Wald, rechts Büsche, Gestrüpp, Bäume und ein Berg. Als ich noch so da stand, die Szenerie betrachtete und mich fragte, warum ich hier gelandet war, schälte sich aus dem Berg ein vager, wackliger Umriss heraus. Erst sah er ein bisschen aus wie der Schemen eines Riesengorillas, dann wie der eines Bären, und schließlich war es einfach nur ein Umriss: Der Geist des Berges trat in mein Gesichtsfeld.

Immer wieder bin ich fasziniert, wenn eine geistige Gestalt, eine Wesenheit aus den immateriellen Ebenen der Realität, vor meinem inneren Auge auftaucht. Die schamanische Höflichkeit gebietet in solchen Fällen, den Geist zu begrüßen und sich vorzustellen. Beim Zusammentreffen mit einem fremden Menschen tun wir das ja auch. Hier fügte ich meiner Vorstellung noch hinzu, aus welchem Ort ich kam, denn der war nicht allzu weit von dem Berg entfernt.

Der Berggeist waberte schweigend hin und her. Er wirkte auf mich ziemlich unruhig, teilweise sogar zornig. Ich fragte ihn, ob er mir etwas mitteilen möchte und warum er so nervös war. Aufgebracht erwiderte er: „Weil sich niemand um mich kümmert! Kein Mensch schert sich um mich oder nimmt Notiz von mir!“ Er schwebte bei diesen Worten noch unruhiger hin und her und strahlte etwas Bedrohliches aus.

Ich konnte seinen Ärger gut nachvollziehen. Niemand ist beglückt, ob Mensch oder Geist, wenn er ignoriert wird. „Das ist, weil dich niemand wahrnimmt. Das liegt an der Trennung“, entfuhr es mir spontan.

 „Kein Mensch nimmt mich wahr? Wieso nicht? Früher haben mich die Menschen immer wahrgenommen, sie haben mir sogar Opfer gebracht!“ Der Geist bot ein Bild der Entrüstung und Verständnislosigkeit.

Ich versuchte, ihm die Situation  zu erklären. Wann für ihn „früher“ war, fragte ich lieber nicht. Das musste für meine Begriffe schon sehr, sehr lange her sein. Doch ein Berg rechnet sicherlich in anderen Zeiteinheiten. „Es ist tatsächlich so, dass die meisten Menschen euch Naturgeister nicht wahrnehmen können. Wir sehen euch nicht, hören euch nicht, registrieren euch einfach nicht.

Leider fehlt auch mir diese besondere Wahrnehmungsgabe. Wenn ich draußen unterwegs bin, spreche ich oft zu den Naturwesen, weil ich weiß, dass sie da sind. Ich grüße sie, danke ihnen für ihr Wirken und wünsche ihnen alles Gute. Doch sie leibhaftig sehen oder hören kann ich nicht.“  Noch nicht, fügte ich in Gedanken hoffnungsvoll hinzu. „Schau, auch jetzt sitze ich in meiner warmen Stube und nehme dich ausschließlich mit meinen geistigen Sinnen aus der Entfernung wahr.“

Der Geist verfiel in eine tiefe Traurigkeit. „Es ist wirklich kein böser Wille, wenn die Menschen achtlos an dir vorüber gehen“, versuchte ich ihn zu trösten.  „Sie können dich ganz einfach nicht wahrnehmen. Das ist das, was ich vorhin mit Trennung meinte. Irgendwann einmal müssen wir von dieser Fähigkeit getrennt worden sein. Ich weiß nicht wann, und ich weiß auch nicht warum.“

Dann erzählte ich ihm noch von meiner Begegnung mit dem Genius Loci. Diese Bezeichnung bedeutet „Geist des Ortes“. Genius ist der Geist, locus der Ort – nein, nein, nicht jenes Örtchen, sondern ein Ort in der Landschaft – und loci ist der Genitiv von locus. Jeder Platz, jedes Dorf, jede Stadt und jedes Land hat seinen Genius. Er wirkt in seinem jeweiligen Tätigkeitsbereich und tut sein Bestes, damit dort alles in Ordnung und Harmonie ist. Das klappt nicht immer, aus sehr unterschiedlichen Gründen, bei denen die Menschen auch eine Rolle spielen.

Besagter Genius loci meines Heimatortes beklagte ebenfalls, dass keine Verbindung zu den Menschen in seiner Region bestand. Er verwies darauf, dass er zu vielen Dingen Hinweise geben könne, wie zur Pflege der Wälder und der Landschaft, zu Baumaßnahmen, zur Arbeit mit der Erde oder zur energetischen Heilung bestimmter Ortsbereiche. Er bat mich, darüber zu schreiben, um das Wissen von seiner Existenz zu verbreiten und die Menschen auf eine Kontaktaufnahme einzustimmen.

Ich meldete beträchtliche Zweifel ob des Sinns und Zwecks eines solchen Berichtes an. Der Gedanke, dass unsere Stadtväter in Meditation versinken und sich mit dem Genius Loci über das Legen neuer Wasserrohre beraten könnten, erschien mir doch etwas weit hergeholt. Er legte mir nahe, es trotzdem zu tun. „Nichts bleibt so, wie es ist. Die Dinge verändern sich ständig“, meinte er gelassen. „Tu es einfach.“

All das berichtete ich dem Berggeist, und er wurde noch trauriger. Sein Anblick bewegte mich sehr, und mir kamen die Tränen. Womit sollte ich ihn bloß ermuntern? Mir fiel rein gar nichts ein. Normalerweise erkundige ich mich ja bei der Wesenheit, mit der ich in Verbindung bin, ob ich etwas für sie erledigen kann, oder ob sie einen Wunsch hat. Hier zögerte ich. Ich dachte an seine Worte von den Opfern, die ihm die Menschen früher gebracht hatten. Wer weiß, um was für archaische Gaben es sich da gehandelt hatte. Wenn er nun wollte, dass ich eine Ziege für ihn schlachtete?

Schließlich fasste ich mir doch ein Herz. Ich versicherte dem Berggeist, dass es mir unendlich leid tat, dass es so mager um unsere Wahrnehmungsfähigkeit bestellt war und fragte, ob er einen Wunsch an mich hätte, den ich ihm im Rahmen meiner Möglichkeiten auch erfüllen könnte.

Der Geist seufzte und bat mich um ein Opfer. „Jetzt kommt’s!“, dachte ich sorgenvoll. Er seufzte noch einmal und meinte, er würde sich freuen, wenn ich einmal persönlich zu ihm an diesen Platz käme, ein Lied für ihn sänge und ihm einen Blumenkranz, frisches Wasser und Beeren brächte, um ihn zu ehren. Es würde ihn trösten, wenn wenigstens ein Mensch von ihm Notiz nähme.

Ein Glück, keine Ziege! Nun war es an mir zu seufzen, und zwar vor Erleichterung. Ich nahm mir vor, im kommenden Mai hinauf zu ihm zu wandern. Blumenkränzchen hatte ich zuletzt in meiner Kinderzeit geflochten. Mal sehen, was ich jetzt als alte Frau zustande brachte. Frisches Wasser gab es im Bach, und ein Lied konnte ich sehr gerne für ihn singen, sogar mehrere. Mit Beeren würde es im Maienwald allerdings noch nichts werden, doch ich konnte ja welche im Supermarkt kaufen.

Also verabschiedete ich mich mit den besten Wünschen von dem Berggeist, freute mich, ihn kennengelernt zu haben und versprach, im Frühling bei ihm vor Ort zu erscheinen. Ich bin gespannt, ob und wie ich ihn dann wahrnehmen werde.

           Januar 2015

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