Der Maus-Geist

Es war still und warm in der Mittagssonne. Ich hockte schläfrig auf einem Holzklotz und lauschte dem Zirpen der Grillen. Plötzlich raschelte es sacht, und eine winzige,
grau-braune Maus huschte aus Gras und Blättern hervor und sah mich an. Es war eine ausgesprochen hübsche Maus.

Am Nachmittag saß ich wieder auf dem Klotz, und nach einer Weile tauchte die Maus erneut auf. Sie rannte über den Weg in meine Richtung und verschwand ein Stückchen seitlich von mir unter einer Mauer. Kurz danach erschien sie zum zweiten Mal, ihr seidiges Fell zitterte im Rhythmus ihres schnellen Atems, und sie beguckte mich aufmerksam mit ihren schwarzen Äuglein.

Ich beguckte sie auch aufmerksam und sah, dass sie auf einem schmalen, fingerbreiten Pfad saß, der durch das Gras zur Mauer führte. In aller Ruhe knabberte sie an irgendwelchen Grashalmen oder Blättchen. Auf der anderen Seite des Weges führte ebenfalls eine kaum sichtbare Schneise unter die Stauden.

In den nächsten Tagen schaute ich mir öfter den Boden an und sah hier eine Maus und da eine Maus. Bei fast allen entdeckte ich schmale, unauffällige Gänge im Gras, auf denen sie flink hin und her flitzten, auftauchten und verschwanden.

Nun ist es aus schamanischer Sicht immer interessant, wenn sich ein Tier zeigt, das man nicht jeden Tag sieht. Dann ist es ratsam, mal nachzuforschen, warum das Tier auftaucht und ob es einem etwas mitteilen möchte. Jedes Tier trägt eine archetypische Essenz in sich, die sich in seinen Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen widerspiegelt, aus denen auch wir etwas lernen können. Verbinden wir uns mit dem Geist der Tiere, erweisen sie sich oftmals als großartige Helfer und Ratgeber.

Hier war die Maus nicht nur einmal vor mir erschienen, sondern mehrere Male. So beschloss ich, sie zu kontaktieren. Ich formte in meinem Geist meine beiden Hände zu einer Schale, und schon saß die Maus drin und sah mich an. Ich begrüßte sie und
fragte, ob sie mir etwas sagen wollte. Das tat sie:

    „Du hast uns beobachtet und die Pfade gesehen, auf denen wir Mäuse uns bewegen. Sie ermöglichen uns, sehr rasch und hindernisfrei unsere Ziele zu erreichen. Unsere Pfade sind sauber und leicht begehbar, deshalb haben wir sie ja angelegt, um uns das Leben leichter zu machen. Da sind keine Blätter, Steine oder Grasbüschel, die uns behindern. Im Gegenteil, wir finden hier auch noch Nahrung. Natürlich huschen wir auch woanders umher und erforschen
    die Gegend, doch das sind unsere sichersten und schnellsten Wege. Wenn wir es für nötig erachten, können wir auf diesen Gängen blitzschnell in unserem Unterschlupf verschwinden. Gehe auch du auf deinen eigenen Pfaden!

    Gehe die Wege, auf denen du dich wohl und sicher fühlst, auf denen du dich schnell und effektiv bewegen kannst. Jeder Mensch hat seine eigenen Pfade, und sie mögen noch so schön und nützlich sein – wenn sie nicht deine ureigenen, von dir selbst geschaffenen Pfade sind, bewegst du dich immer auf fremdem Territorium.“

Das war genau der Hinweis, der mir weiter half. Ich nahm gerade an einem sehr guten Workshop teil, und doch hatte mich die ganze Zeit gefragt, ob diese Form der Arbeit denn das Richtige für mich war.

Zum Dank für ihre Entscheidungshilfe habe ich der Maus, auch wenn man das im Allgemeinen nicht tun sollte, ein paar Brotkrümel spendiert. Die waren Null Komma nichts verschwunden, und Mäuse habe ich danach auch nicht mehr gesehen.

    August 2013

    © Karin Usbeck
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Karin Usbeck, Thüringen