Poseidon spricht

Ich war auf einer schamanischen Reise in die Untere Welt. Dabei handelt es sich nicht um den Hades oder die Unterwelt der griechischen Mythologie. Die Untere Welt ist einfach eine Energie-Ebene in der nichtmateriellen Wirklichkeit, in die sich der schamanisch Arbeitende mit seinem Seelen-Bewußtsein hinab begibt. Es ist ein großzügiger und spannender Raum, wo auch Krafttiere, geistige Helfer des Menschen, gefunden oder um Rat und Hilfe gebeten werden können. 

Diesmal glitt ich bei meinem Abstieg in die unteren Gefilde schwungvoll einen Fluss entlang, der ins Meer mündet, als sich am Horizont eine imposante Gestalt erhob. „Der Meeresgott Poseidon!“, dachte ich spontan und starrte verblüfft auf das wohlbekannte Bild mit dem Dreizack.

„Na ja“, meinte die Gestalt, „so hat man mich früher bezeichnet und als Gott verehrt. Doch ich bin weit mehr als eine lokal begrenzte Göttergestalt. Ich bin der Geist der Meere, aller Meere. Und ich möchte, dass Du etwas über das Meer erzählst. Deswegen bin ich hier aufgetaucht.“

Jedes mal bin ich verwundert und dankbar, dass das Universum mir deutliche Bilder schickt. Sie sind genau auf meinen Verstand und meine Begriffswelt zugeschnitten, so dass ich nicht lange rätseln muss, worum es sich handelt. Den Geist der Meere hätte ich kaum als solchen erkannt, wenn er als reine Energie am Horizont umher gewabert wäre. Doch ein plastisches Bild von Poseidon - und alles war klar.

Der Geist der Meere hielt sich nicht lange mit der Vorrede und meinem Erstaunen auf und fuhr fort: „Erzähle die Geschichte vom Meer, wie Du sie bereits einmal erlebt hast. Erzähle, wie es sich anfühlt, das Meer zu sein, ein lebendiger, empfindsamer Organismus. Vielleicht erinnern sich einige Menschen an ihr altes Wissen, an das Gefühl, ein Mensch und gleichzeitig jeder lebende Organismus auf dieser Erde zu sein. Du bist nämlich ein Erinnerer, und das ist deine Aufgabe, das weißt du doch, oder?“

Ich musste lachen. Wie bitte, lautete wohl die weibliche Form von Erinnerer?

Nach einigen zungenbrecherischen Varianten ließ ich den Versuch fallen und besann ich mich auf die schamanische Reise, von der Poseidon sprach. Sie lag einige Zeit zurück und hatte mich gelehrt, mit dem Element Wasser der Ozeane zu verschmelzen. In meinem Bewusstsein und mit meinem Gefühl wandelte mich zu einer Welle im Meer. Ich bäumte mich hoch auf, wuchs, überschlug mich und klatschte an den Strand. Ich verspritzte in tausend Tropfen und sickerte in den  Sand. Als neue Welle zog ich mich wieder zurück, weiter hinaus ins Meer, wurde größer und größer, bis ich kraftvoll schwingendes Wasser war.

Dann war ich noch weiter draußen und breitete mich glatt und ruhig unendlich weit aus. Nun war ich der Ozean in seiner ganzen Größe. Ich war alle Ozeane unserer Erde. Ich hatte das Empfinden, sanft zu pulsieren, als sei ich ein sachte atmender Herzschlag. Ich spürte und sah alles, was in mir war, und es war gut so.

Plötzlich nahm ich wahr, dass Schiffe auf mir schwammen. Mir, dem Ozean, tat das weh, und ich spürte Schmerz. Es war das gleiche Gefühl, dass ich als Frau bei der Entbindung meines Sohnes gehabt hatte.  Mein gespannter Leib war damals so empfindlich gewesen, dass ich regelrecht vor Schmerz zusammengezuckt war, als der Arzt sachte sein Stethoskop an meinen Bauch gehalten hatte.

Genau so empfand ich jetzt als Ozean, als die Schiffe über mich fuhren. Mit meinem menschlichen Verstand konnte ich das nicht richtig nachvollziehen. Schiffe, die über die Meere fahren, finde ich nämlich sehr schön. Was war daran Verletzendes?

Um das herauszufinden, versenkte ich mich am nächsten Tag noch einmal in das Bewusstsein des Meeres und fragte, warum dem Ozean Schiffe weh taten. Erneut sank ich in die Tiefen des Meeres und nahm die Fische wahr, die in mir schwammen. Pflanzen, Algen und alles mögliche Getier bewegte sich in mir, und nichts davon tat mir weh. Ich spürte ihre organische Substanz, spürte, wie sie lebten, pulsierten, wie sie Teil von mir waren.

Dann fühlte ich die Schiffe auf meinem Wasserkörper schwimmen. Sie waren von keiner organischen Beschaffenheit, und sie verbanden sich nicht mit meinem Körper. Sie waren künstliche Materie und sehr hart auf meiner Haut. Das erzeugte den gleichen Berührungsschmerz, den ich als Frau auf meinem Bauch empfunden hatte, als das Stethoskop mich berührte.

Da die Konsequenz aus diesem Wissen nun kaum in der Einstellung der Schifffahrt bestehen konnte, war ich als Mensch ziemlich ratlos. Gab es vielleicht andere Beförderungsmittel, die dem Ozean nicht weh taten? Ich sah eine erstaunliche Antwort: Eine große Blase aus Wasser, die ein komplettes Schiff mit Menschen und Technik umhüllte und sich samt Inhalt über das Meer bewegte.

Das fühlte sich für den Ozean gut an. Die Wasserblase war kein künstliches Gebilde, sondern ein lebendiger Teil des Meeres. Was sich innerhalb der Blase befand, kam nicht in Kontakt mit dem Ozean, war von ihm nicht spürbar. Ich bat um einen Hinweis, wie so ein Gebilde realisiert werden könne. Die Antwort lautete, dass dies nicht Aufgabe des Ozeans sei, sondern der Menschen, die ihn befuhren.

In dem Moment wünschte ich mir, einen medial begabten Wissenschaftler und Erfinder an meiner Seite zu haben, der sich in eine solche Thematik einklinken konnte. Wer einmal das gleiche empfunden hat wie der Ozean, wird meiner Meinung nach sicher darauf achten, dass seine Konstruktionen und Erfindungen eine Symbiose mit der Umwelt eingehen.  So vieles ist bereits von den Menschen verwirklicht worden, was erst einmal als utopische Geschichte über die Bildschirme flimmerte. Vielleicht entstehen so fantastische Transportmittel der Zukunft, die in Verbindung und Harmonie mit der Umwelt durch die Elemente gleiten.

August 2014

    © Karin Usbeck
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Karin Usbeck, Thüringen