Eulen-Ohren

Lautlos und mit weit ausgebreiteten Schwingen flog die Eule durch die Nacht. Sie schwebte dicht über der Wiese, und ich schwebte im Geiste neben ihr. Es war so finster, dass ich Mühe hatte, an ihrer Seite zu bleiben. Sanft landete sie neben einem Bach am Fuß einer hohen Fichte. Ich hockte mich dazu und wartete gespannt, was sie bei unserem nächtlichen Ausflug im Sinn hatte.

„Was hörst du?“, fragte sie übergangslos.
„Der Bach plätschert“, erwiderte ich,  leicht verwundert über ihre Frage.
„Was hörst du noch?“, fragte sie erneut.
„Nichts, es ist eine stille Nacht, nur der Wind säuselt ein bisschen.“

Beharrlich wiederholte die Eule ihre Frage zum dritten Mal. Ich lauschte angestrengt und vernahm keine weiteren Geräusche.
„Bist du taub? Hast du Bohnen in den Ohren?“
„Wieso denn, dich höre ich doch auch“, entgegnete ich. „Du schreist mir ja laut genug in die Ohren.“

„Ach“, meinte sie, „ich schleppe dich doch nicht durch die Nacht, damit du den Bach plätschern hörst. Du sollst deine innere Wahrnehmung trainieren. Ignoriere die äußeren Geräusche, und öffne deine inneren Ohren. Also, was hörst du da?“

Ich richtete meine Aufmerksamkeit nach innen. Gedanken kamen und gingen. Ich ließ meinen Atem gleichmäßiger werden und entspannte mich.
„Mir scheint, ich kann mit meinen inneren Sinnen besser sehen als hören“, stellte ich fest.
„Deshalb sollst du ja jetzt dein inneres Ohr schärfen“, empfahl die Eule.

Mein Magen knurrte. Ich atmete weiter. „Ich höre meine Gedanken.“
„Gut“, nickte die Eule, „und was sagen deine Gedanken?“
„Irgendwas mit Ruhe und Stimme der Stille.“
„Und weiter?“, fragte die Eule.

Ich konzentrierte mich, und meine Gedanken wurden deutlich.

    „Wenn wir die Stimme der Stille vernehmen möchten, sollten wir raus in die Natur, alleine. Ohne  Musik in den Ohren und ohne Unterhaltung mit anderen Leuten bewegen wir uns anders, atmen wir anders. Alles wird ruhiger. Wir spüren die Erde unter den Füßen und die Luft um uns herum. Der Körper gleicht sich ganz allmählich dem Rhythmus der Natur an. Die springt auch nicht hektisch von einer Jahreszeit zur anderen oder wirft in einem Moment die Blätter ab, um im nächsten Moment wieder auszutreiben.

    Ruhe ist hier das Zauberwort, Gelassenheit und Stetigkeit im Wandel. Nach einiger Zeit kommt dann der Punkt, wo die äußeren Geräusche in den Hintergrund treten, die inneren Ohren sich öffnen und die innere Stimme vernommen wird. In der Stille sind wir offen für die Sprache des Geistes. Das ist der Punkt, wo wir gewissermaßen das Gras wachsen hören.“


„Na also“, nuschelte die Eule, „bist ja doch nicht ganz taub.“

Lautlos und unsichtbar glitten wir durch die Dunkelheit zurück.

P.S. Kennen Sie auch Menschen, die manchmal das Gras wachsen hören?

Oktober 2013

© Karin Usbeck
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Karin Usbeck, Thüringen