Goldkäfer

Still lagen die Straßen, wie ausgestorben. Der Regen fiel stetig und sachte. Bei dem gleichförmigen, sanften Rauschen sank ich immer tiefer in eine entspannte, absichtslose Meditation. In dieser angenehmen Trance erschienen vor meinem inneren Auge plötzlich und wie aus heiterem Himmel kleine schwarze Käfer, die auf dem Erdboden um mich herum krabbelten.

Igitt, wo kommen die denn her?“, war mein erster Gedanke, während ich die Käfer mit leichtem Widerwillen betrachtete. Mein zweiter Gedanke war: „Wie werde ich sie los?“ Armwedelnd versuchte ich, sie zu verscheuchen. „Husch, verschwindet, weg mit euch!“ Die Käfer taten nichts dergleichen. Sie beachteten mich gar nicht. Im Gegenteil, es kamen immer mehr herbei gekrabbelt.

Dieses ganze Gewusele zu meinen Füßen gefiel mir überhaupt nicht. Die Käfer sollten weg. Mir fiel aber nichts Gescheites ein, wie ich sie los werden konnte. Einen Moment lang erwog ich, sie ins Feuer zu schmeißen und sie zu verbrennen. Guter schamanischer Weg, störende Dinge endgültig zu beseitigen. Doch ich rief mich gleich selbst wieder zur Ordnung. Ich bin nicht der Typ, der in der spirituellen Arbeit mit Gewalt gegen etwas Unliebsames oder scheinbar Feindliches vorgeht. Wenn etwas da ist, dann ist es eben da und hat meiner Meinung nach seine Berechtigung, allein dadurch, dass es da ist. Kann sein, dass es sehr fremd oder im Moment für mich unverständlich ist. Aber meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass es schon seinen Sinn hat, wenn etwas auftaucht und sich uns präsentiert, egal, was es ist.

Da ich das Käfer-Problem nun aus meiner Sicht der Dinge nicht auf anständige Art und Weise lösen konnte, bat ich, gewissermaßen als Retter in der Not, Erzengel Michael um Hilfe. „Bleib still stehen, und beobachte!“, bedeutete er mir. Also erstarrte ich zur Salzsäule, während sich noch mehr Käfer um mich scharten. Weil mir das Ganze so unangenehm war, rief ich außerdem nach Erzengel Raphael und hoffte, dass er die Käfer mit seinem grünen Strahl vielleicht weg wischen würde oder so etwas ähnliches. Auch er riet mir, still zu stehen und zu beobachten.

Die Käfer wurden immer mehr und fingen an zu wandern. Dabei formierten sie sich zu einem langen, schwarzen Zug, der unaufhaltsam vorwärts strebte. Es sah aus, als ob sich ein schwarzes Band durch die Gegend bewegte, das immer breiter und länger wurde.

„Folge ihnen, und beobachte!“, wies mich Michael an. Ich kam mir vor wie der Rattenfänger von Hameln, nur dass ich mich im Geiste hinter und über dem Zug befand, anstatt an seiner Spitze. Von überall her strömten neue Käfer herbei und schlossen sich dem Zug an. „Echt gruselig!“, fand ich.

Mir war ein Rätsel, was da ablief. „Wo wollen sie denn bloß hin?“, fragte ich. „Nach Jerusalem“, lautete die Antwort. Ich war platt. Hätte es geheißen: „Auf den Mond“, wäre ich nicht weniger erstaunt gewesen.

Ohne weitere Erklärung wurde ich erneut aufgefordert, sie zu begleiten und zu beobachten. So begleitete ich den Zug, bis wir zu einem Meer gelangten. „Ha, da kommen sie nicht drüber“, dachte ich und konnte die leise Hoffnung nicht unterdrücken, dass nun der ganze Spuk im Ozean versinken würde.

Doch irgendwie schafften es die Käfer, sich wie eine Brücke über den Ozean und dann weiter landeinwärts zu bewegen. Zielsicher marschierten sie in Jerusalem ein, wanderten den Tempelberg hinauf und gruben sich von dort oben bis tief in das Innere des Hügels hinab. Sie schwärmten  unterirdisch aus, drangen anschließend an die Oberfläche hoch und begannen, die Stadt zu überschwemmen.

Bei diesem Anblick wurde mir immer unheimlicher zumute. Gleichzeitig wusste ich, dass ich sicher war und alles seine Richtigkeit hatte, selbst wenn ich noch nicht begriff, worum es ging. Ansonsten hätte mich Michael nicht auf diesen Weg geführt. Abermals forderte er mich auf, zu beobachten. Etwas anderes blieb mir ja auch kaum übrig, und so hob ich mich im Geiste hoch über die Häuser, um einen guten Überblick zu bekommen, und beobachtete das Geschehen.

Mittlerweile hatten sich alle Käfer nach oben durch gearbeitet und die ganze Stadt überflutet. In allen Straßen, auf allen Plätzen, in jedem Winkel wimmelten schwarze Käfer. Plötzlich verbanden sie sich alle zu einer flächendeckenden Struktur, wurden heller und fingen an zu leuchten. Ziemlich rasch wurden sie heller und heller, bis sie am Ende goldfarben waren. Von oben sah es aus, als würde ein zartes goldenes Gitternetz die ganze Stadt Jerusalem bedecken. Es war ein sehr schönes Bild. Natürlich wollte ich wissen, wozu das goldene Netz diente.

„Es hilft der Erde, dem Erdboden von Jerusalem“, erklärte mir Michael. „Alles, was jemals auf dem Territorium dieser Stadt und in ihrer Umgebung geschehen ist, hat Spuren in der Erde hinterlassen, ist als energetischer Abdruck in den Boden eingesickert. Es ist vergleichbar mit den Zellen des menschlichen Körpers, in denen ebenfalls alles eingespeichert ist, was der Mensch in seinen verschiedenen Inkarnationen und darüber hinaus erfahren hat.

Der Erdboden als solcher ist an manchen Stellen oder Orten durch das Geschehen in Vergangenheit und Gegenwart sehr belastet, manchmal regelrecht vergiftet. Das ist auch in Jerusalem der Fall. Der kranke Boden strahlt seine Energie aus, wovon die Menschen, die auf ihm leben, ebenfalls beeinflusst werden. Die goldenen Käfer arbeiten mit dem Boden. Sie reinigen und entgiften ihn. In Jerusalem war es dafür an der Zeit.“

Ich war voller Ehrfurcht und Bewunderung, mit welcher Weisheit und Liebe die Schöpfung dem Planeten Erde, und uns, ihren Bewohnern zur Seite steht. Staunend betrachtete ich das goldene Netz, das jetzt nicht mehr aus einzelnen Käfern, sondern aus fein ineinander verwobenen Strahlen bestand.

Dankbarkeit erfüllte mich, dass ich Zeugin dieser Aktion sein durfte. Zwei Dinge jedoch ließen mir keine Ruhe: Was hatte ich mit dieser ganzen Angelegenheit zu tun, und warum waren die Käfer bis zu ihrem Auftauchen an der Erdoberfläche Jerusalems schwarz gewesen?

„Für solche und ähnliche Aktionen bedarf es eines menschlichen Transmitters. Irgendwo mussten sich die Käfer ja sammeln, um ihren Weg anzutreten, nicht wahr?“ Vernahm ich da so etwas wie liebevollen Spott in Michaels Erklärung? „Na, und warum wohl waren sie schwarz, bis sie ihr Ziel erreicht hatten?“, fuhr er fort. Schlagartig wusste ich es, und jeder Lichtarbeiter weiß es ebenfalls.


September 2014

    © Karin Usbeck
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Karin Usbeck, Thüringen